Die Insel Taiwan liegt im Westpazifik, nördlich der Philippinen, rund 180 km entfernt vom chinesischen Festland. Im 17. Jahrhundert wurde sie von portugiesischen Seefahrern als „Formosa“, kurz für „ilha formosa“, als wunderschöne Insel bezeichnet. Ihre Silhouette wird östlich von mehreren bis über 3000 m hohen Bergketten geprägt, geformt vor vier bis fünf Millionen Jahren durch die kontinuierlichen Bewegungen der Eurasischen und Philippinischen Platte, die unter der Insel aufeinanderstoßen.
„Die Berge in Taiwan sind wie unsere Mutter“1, sagt Ying-Tung Tseng. Der Künstler (*1953) wuchs in Tainan, der ältesten Stadt Taiwans, im flachen Südwesten der Insel auf. Auch von hier aus kann man die gewaltigen Bergketten, die zwei Drittel der Insel bedecken, noch sehen. Die heutige Metropole Tainan blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück, die sich auch in ihrer Architektur zeigt: neben alten chinesischen Tempeln und Gebäuden aus der Zeit der japanischen Herrschaft (1895-1945) prägen die über 300 Jahre alten Forts der niederländischen Kolonisten das Antlitz der Stadt. Die imposanten Befestigungsanlagen hatten es Ying-Tung Tseng als Kind besonders angetan. Auf dem Weg von der Schule nach Hause ließ der Junge im Vorbeischlendern seine Hände behutsam über die grob behauenen Steine der Festungsmauern gleiten. Das raue Relief der Steine auf den Handflächen zu spüren wurde zu einer Erinnerung, die sich bis heute in der einzigartigen Oberflächengestaltung seiner Werke widerspiegelt. Schon früh entdeckte Tseng seine künstlerische Begabung. „Ich bemerkte, dass meine Klassenkameraden cleverer waren und bessere logische Fähigkeiten hatten als ich“, sagt der Künstler bescheiden. „Seitdem habe ich auf meine Intuition vertraut. Ich denke, dass ich sie mittlerweile gut geschärft habe.“2
Nach seinem Studium der Bildenden Kunst in Taipeh, geht Tseng für einige Zeit in die USA und macht dort seinen Master of Arts an der New York Universität. Heute lebt und arbeitet er in Tainan, wo er 2015 sein eigenes Museum, das Asir Art Museum, eröffnet.
In seinen Werken ist der Künstler seiner Heimat, vor allem der Natur seiner Heimat, immer verbunden geblieben. Geradezu sinnbildlich für diese enge Beziehung ist seine jüngste Arbeit Goldener Jadeberg (2019). Aus vier vertikalen Einzeltafeln gestaltet Tseng ein monumentales Relief-Gemälde, das den höchsten Berg Taiwans, den Yushan (auch Jadeberg genannt), zeigt. Die organisch anmutende Oberfläche des Werkes entsteht durch die Verwendung von Pappmaché, welches Trägermaterial von nahezu allen Werke Tsengs ist. Diese zunächst flexible, aber nach ihrem Trocknen sehr feste und robuste Masse, bedarf bei zunehmender Größe und Gewicht eines stabilisierenden Trägers oder Gerüsts, kann aber sonst gänzlich frei geformt werden.
Reliefhaft heben sich die majestätischen braunen Gipfel des Yushan von der Bildoberfläche ab. Am Fuß werden sie von den Silhouetten stark verästelter Bäume, die an Kampferbäume erinnern, umsäumt. Während im unteren Bereich des Gemäldes noch ein türkisfarbener Nebel auf der Landschaft liegt, flackert der Himmel im warmen gold-orange-blauen Sonnenlicht, das als zartes Blattgold auch in den Baumkronen weiter unten im Tal schimmert. Durch die besondere Lichtstimmung und die üppige Verwendung von Gold erhält die gesamte Szenerie etwas Erhabenes, fast Überirdisches.
Auffällig ist zudem die besondere Oberflächenstruktur der Bergformationen, die in Wirklichkeit stark zerklüftet sind, hier jedoch durchgängig mit dem Abdruck eines Ringes oder einer alten chinesischen Münze geprägt sind. Es wird klar: Dieser Berg ist nicht nur eine beliebige geographische Erhebung, sondern ein ganz besonderer Berg. Ein mystischer Berg, der – wie Taiwan einst selbst – gerade aus dem türkisblauen Wasser emporsteigt (ähneln nicht einige der Bäume eher Korallen?) und die in ihm verborgenen Schätze und Ressourcen offenbart.
„Nicht viele Künstler werden sich mit dem Thema ‚Geld‘ auseinandersetzen, weil sie es für billig und geschmacklos halten“, sagt Ying-Tung Tseng. „Aber genau wie Liebe die machtvollste Energie in der immateriellen Welt ist, so ist Geld die machtvollste Energie in der materiellen Welt.“3
Dass diese Energien stets in einem Gleichgewicht gehalten werden müssen, zeigt die Serie Five Elements (2015). Gemäß der daoistischen Elemente-Lehre gibt es fünf verschiedene Elemente: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Diese stellt der Künstler in Form von übergroßen, unregelmäßigen chinesischen Käsch-Münzen4 dar, deren Oberflächen je nach Charakteristik des jeweiligen Elements gestaltet sind. So wie die fünf Elemente allesamt Teil eines nie ruhenden, zyklischen Transformationsprozesses sind, so sollte auch die Münze oder das Geld Bestandteil eines dynamischen Energieaustausches sein: die Energie, die man gibt, kommt auch als Energie zurück.
Die Idee eines immerwährenden zyklischen Wandels, der alles durchdringt und sich in der Natur und im menschlichen Dasein zeigt, veranschaulicht sich außerdem in Tsengs Serie Die 24 Jahreseinteilungen (2015-2017). Da der chinesische Lunisolarkalender5 das Jahr nicht nur in vier, sondern in 24 Jahreszeiten unterteilt, hat der Künstler ebenso viele kleinformatige Arbeiten gestaltet. Jeweils von einem dunklen Metallrahmen eingefasst, präsentiert jedes Werk je nach Jahreszeit verschiedene kleine, liebevoll aus Metall gefertigte Symbole: von der Libelle zum Froschpärchen über den Lastenesel bis hin zur Teekanne – Tseng findet für jede Jahreszeit eine bildliche Entsprechung, deren Bedeutung jedoch stets im Gesamtzusammenhang des Jahres zu betrachten ist.
Die Liebe des Künstlers zur Natur und die damit verbundene Lebensfreude und -energie ist der rote Faden, der alle Arbeiten Ying-Tung Tsengs durchzieht: Ob Darstellungen der Sonne, unterschiedlicher Blumen, Korallengewächse und Bäume – egal wie düster sich die Farben am Horizont auch manchmal färben mögen, selbst in der dunkelsten Arbeit findet sich noch ein hoffnungsvolles Schimmern oder ein zartes Aufblühen.
Und wenn wir dann einen letzten Blick auf Ying-Tung Tsengs großformatige Arbeit Träume (2019) werfen, auf dem die kleine Insel Taiwan friedlich im weiten, hellblauen Westpazifik döst, umkreist von freundlichen Fischen und kleinen Herzsymbolen – dann lehrt uns der Künstler vielleicht etwas ganz universelles: dass ein liebevoller Blick auf und ein respektvoller Umgang mit der Natur und den Energien der Erde das vielleicht wichtigste aller kultureller Güter ist, das uns – im besten Falle – über alle Grenzen hinweg verbindet.
1 In Einführungstext zu: Besuch Taiwan in Berlin 2018
2 Han Cheung: „Drawing from the energies that drive humanity“, Interview in: Taipei Times. Stand: 24.03.2019
3 Ebenda.
4 Bezeichnung für chines., japan., korean., vietnam. und sino-indones. alte Kursmünzen aus Messing, Bronze, Kupfer oder sehr selten Eisen bzw. Zinn oder Blei mit einem meist quadratischen und selten runden Loch in der Mitte.
5 Der Kalender basiert auf den exakten astronomischen Stellungen von Mond und Sonne. Dabei wird die Ekliptik in 24 Teile von je 15° unterteilt. Das Sonnenjahr ist daher in 24 Stationen untergliedert. Dadurch entstehen die chinesischen 24 Jahreseinteilungen („24 Jieqi“ im Chinesischen).
Text: Claudia Heidebluth, Fotos: Alexander Bondar
Video: www.rro.berlin