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Werner Brunner – Arche & Atlas. Unter der Last der Wirklichkeit (1. Februar – 8. März 2018)

„Ich unglückselger Atlas! Eine Welt, / die ganze Welt der Schmerzen, muß ich tragen / Ich trage Unerträgliches, und brechen / Will mir das Herz im Leibe.“[1] – Diese hoffnungslosen, verzweifelten Zeilen dichtet der junge Heinrich Heine zwischen 1823 und 1824. Im Jahr 2013 singt die britische Band Coldplay: „Heaven we hope / is just up the road / Show me the way Lord, / because I / I’m about to explode / Carry your world, / I’ll carry your world (…) / Carry your world / and all your hurt …“[2] und nennt ihren Song “Atlas”. – Atlas, das ist jener von Zeus bestrafte Titan, der bis in alle Ewigkeiten das Himmelsgewölbe am westlichsten Punkt der damals bekannten Welt stützen sollte. Mit den Jahrhunderten wurde aus dem Firmament der Antike jedoch die gesamte Erdkugel, die schließlich weder in Heines Gedicht noch in dem Song von Coldplay länger von dem mächtigen griechischen Gott, sondern vom Ich, vom Menschen selbst, getragen wird. An diesem Punkt, an dem der Einzelne die Last der Welt, auf der er lebt, selbst schultert, knüpfen die Arbeiten von Werner Brunner an.

Anfang der 90er Jahre beginnt Werner Brunner (*1941) an seiner Werkgruppe ATLAS zu arbeiten. Ausgehend vom antiken Mythos des Atlas und inspiriert durch das Gedicht von Heine setzt sich der Künstler, der seit den 70er Jahren in Berlin lebt und arbeitet, auf originäre Weise mit dem kunst- und bauhistorisch verankerten Atlas-Motiv auseinander und erforscht dessen Tragweite in unserer Gegenwart. Brunner ist ein sensibler und kritischer Beobachter unserer Zeit, täglich verfolgt er das aktuelle Weltgeschehen. Einen ersten Impuls für seine Arbeiten findet der gelernte Schmied, Architekt und archäologische Bauforscher daher häufig in Tageszeitungen in Form von Berichten, Pressefotos und Werbeanzeigen. So verwendet Brunner für seine Atlanten oft Fotos von Lastenträgern und Menschen unter schwersten Anstrengungen aus Entwicklungsländern und Fluchtgebieten, die er in seine großformatigen Werke montiert und dann übermalt. Auch die Erde, die eigentlich untragbare Last, die diese Männer, Frauen und Kinder auf sich geladen haben, ist nicht länger der stilisierte Globus, den wir glauben so gut zu kennen. In Brunners Gemälde „Ich unglückselger Atlas – Verbrannte Erde. V“ (1998) zum Beispiel stemmt die unter der enormen Last zusammengekauerte Silhouette des Atlas gerade noch mit allerletzter Kraft, die bereits gänzlich verbrannte Erde, einen Krater aus Asphaltlack und Asche. Statt auf eine in schematisch-fröhlichen Farben wohl geordnete Länderkugel blicken wir auf ein furchteinflößendes Relief, das einer globalen Alptraumvision gleicht.

Bleibt der Atlas in dieser Allegorie der Hoffnungslosigkeit nur eine anonyme Schattenfigur, so gibt Brunner der Atlasfigur in seiner Arbeit „Ich unglückselger Atlas … IV“ (1998-2011) ein Gesicht und zwar das einer Frau, genauer gesagt: das einer afrikanischen Frau. Brunner entdeckte sie auf einem Foto in einem Bericht über illegale europäische Fangflotten an afrikanischen Küsten. Im Originalfoto balanciert die Frau eine Wanne mit einem großen Fisch auf dem Kopf, bei Brunner trägt sie die gesamte Erde, deren weiße und verdorrte Oberfläche mit trostlosen Rissen über ihrem scheu lächelnden Antlitz schwebt. Wie schon in dem Gemälde zuvor, beeindruckt auch diese Darstellung der Erde mit einer besonderen reliefhaften, geradezu haptischen Oberflächenbearbeitung, für die Brunner neben Asphaltlack häufig Sand, Asche und Papier mit der Farbe auf der Bildoberfläche mischt.

Doch Brunners Globen zeigen nicht nur einen menschenleeren Planeten. In seiner neueren Arbeit „Ich unglückselger Atlas … IX“ (2017) sehen wir die in Flammen stehende syrische Stadt Aleppo. Zwischen ihren brennenden Häusern recken mehrere Menschengruppen ihre Arme in den Himmel und signalisieren im Angesicht der zerstörten Stadt mit den Fingern das Victory-Zeichen. Nur noch halbherzig gestützt wird die brennende Häuser-Menschen-Masse von einer klassischen Atlasskulptur, die am linken Rand bereits aus dem Bild zu kippen scheint. An ihr vorbei drängen sich Frauen mit Kleinkindern auf dem Arm sowie mehrere kindliche Lastenträger, die allesamt aus der Stadt hinaus, auf den Betrachter zulaufend, fliehen. Die Fliehenden und die Bleibenden, die Brunner auch hier jeweils aus Fotos montiert hat, erscheinen als Duplikate. Indem der Maler sie doppelt, wird ihr Schicksal zum Schicksal von vielen, als viele formen sie ein menschliches Muster, ein Echo, das sich nicht nur auf dem Bildträger wiederholt. Denn wie oft sehen wir ein und dasselbe Pressefoto? Und wie viele Schicksale stehen hinter diesen Fotos? Und wer nimmt an diesen Schicksalen teil?

In der großen Collage „Ich unglückselger Atlas … VIII“ (2012) stellt sich die Frage nach der Beteiligung, nach der Mitverantwortung noch vordergründiger. Dort schleppt ein Junge mit mühsam nach hinten gereckten Armen einen Weltsack voller Werbung und Verpackungsabfall. Es sind die Verpackungen und Werbeprospekte vieler über die deutschen Grenzen hinaus bekannter Produkte. Spätestens seit dem in der Presse groß thematisierten Importstopp für Plastikmüll, den China Anfang des Jahres ausgerufen hat, müsste nun auch dem Letzten dämmern, was der eigene, tagtäglich produzierte Müll mit Umweltzerstörung und katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen zu tun hat. Während wir die Mülltonne jeden Tag auf und wieder zu klappen und den Inhalt

darin vergessen, leben andere Menschen in und von diesem Müll, in der zerstörerischen Hoffnung, darin noch etwas Brauchbares zum Überleben zu finden. Wie unmittelbar diese beiden Alltagswelten verknüpft sind, verdeutlicht einmal mehr Brunners Werk „Element“ (2009), das einen kleinen Jungen in einem Kahn zeigt, der in einem Gewässer aus Abfällen nach etwas Verwertbaren fischt.

Werner Brunner • Walter Benjamins Arche. 1994

Wohnt dem Atlas-Motiv schon in seinem Ursprung etwas Tragisches inne, so gilt die Arche doch vielmehr als Symbol der Hoffnung, des Überlebens, des Anbrechens einer neuen Zeit. Nach der biblischen Überlieferung baut Noah die Arche für sich, seine Familie und die Landtiere auf Gottes Geheiß, der ihm auf diese Weise ermöglicht, die große Sintflut, Gottes Vergeltung für die Verfehlung der Menschheit, zu überleben. Werner Brunner beginnt sich beinahe zeitgleich zur ATLAS-Reihe mit dem Motiv der Arche zu beschäftigen. 1992 soll er für eine französische Ausgabe[3] der Briefsammlung „Deutsche Menschen / Allemands“ von Walter Benjamin Lithografien gestalten, doch es ist die vorangestellte Widmung Benjamins an seinen Freund, den Religionshistoriker Gershom (auch: Gerhard) Scholem, die ihn nicht loslässt: „Möchtest du, Gerhard, für die Erinnerungen deiner Jugend eine Kammer in dieser Arche finden, die ich gebaut habe, als die faschistische Sintflut zu steigen begann.“ Diese Worte setzen den Startpunkt für Brunners Arbeit an der Werkreihe ARCHE. Zeigen sich frühe Werke wie „Walter Benjamins Arche III“ (1994) und „Ahoi IV“ (1993) trotz ihrer melancholischen Farbigkeit noch dem in der Widmung implizierten Gedanken der Hoffnung, das Menschliche zu retten und zu bewahren, verbunden, sprechen die später entstandenen Werke „Bodenlos“ (2007) und „Arche VI“ (2002-16) eine deutlich weniger zuversichtliche Sprache, die sich auch in der Materialbearbeitung der Werke zeigt. Brunner verwendet Sperrholz, Holzlatten, Teile von Holzkisten und hämmert, nagelt, bricht heraus, er arbeitet sich am Material ab. „Arche VI“ zeigt schemenhafte Gestalten, die auf den Trümmern ihrer Existenz eingekesselt in einer Feuer- oder Sandwolke stehen, in „Bodenlos“ hingegen sehen wir ein Ruderboot ohne Ruder, ohne Boden, ohne Insassen und ohne jegliche Hoffnung. Hier kehrt die Arche zu ihrer wortwörtlichen Bedeutung zurück: Kasten, Schrein, Sarg.

Was sich in beiden Werkreihen zeigt, ist das besondere Gespür Brunners für die Schattenseiten unserer Zeit, für die dunklen Flecken, die viele von uns vielleicht lieber ausblenden würden. Brunner, der in den 40er und 50er Jahren im tiefsten Bayern eine vom Zweiten Weltkrieg geprägte Kindheit erlebt und dann nach seiner Lehre als Schmied mit Mitte 20 zur Kunst findet, will seine Augen nicht verschließen, weil er weiß, welche Gefahren dies birgt. Seine Werke beinhalten daher die Sicht auf die globalen Zusammenhänge und fragen dabei jedoch immer nach dem menschlichen Kern darin. Und wenn Brunner selbst in „Ich unglückselger Atlas … XII“ (1997/2017) zum Atlas wird, der in wackliger Haltung versucht seine Unterhose anzuziehen, während um ihn herum die Schwerkraft versagt, Häuser und Autos davonfliegen und nur noch notdürftig an Seilen gehalten werden, dann sehen wir, wie der Künstler selbst in seinen Werken darum kämpft, alles zusammen zu halten, nicht loszulassen, eine Antwort zu finden, eine mögliche Antwort auf die Widersprüche unseres Daseins. Und dieser Drang setzt etwas voraus, das Brunner in sich trägt: das Vertrauen, dass es diese Welt wert ist, sie auf Händen zu tragen und die Hoffnung, dass Kunst mehr sein kann als nur ein Denkanstoß.

 


 

Epilog

 

Und trügest geduldig die Last des Elends

Und trügest geduldig so lange, so lange,

Bis Atlas selbst die Geduld verliert

Und die schwere Welt von den Schultern abwirft

In die ewige Nacht.  [4]

 

 

Text: Claudia Heidebluth


[1] Heinrich Heine, Buch der Lieder, Die Heimkehr. Hamburg 1827, S. 202

[2] Deutsch: „Der Himmel ist, so hoffen wir, / nur am Ende dieser Straße. / Zeig mir den Weg, Gott, / denn ich bin dabei zu explodieren. / Trag‘ die Welt, / ich werde die Welt tragen (…) / trag‘ die Welt und all ihren Schmerz.“

[3] Walter Benjamin, Allemands, Ed. Théâtre Typographique, Courbevoie, 1992.

[4] Heinrich Heine: Buch der Lieder. Hamburg 1827, Kap. 239


Interview mit Werner Brunner über die Ausstellung