In jeder Minute atmen wir im Schnitt 17 mal ein und aus, pro Tag verbrauchen wir so rund 12.200 Liter Sauerstoff. Ein Baum produziert in der gleichen Zeit, je nach Größe und Standort, circa 21.000 Liter Sauerstoff. Ein erwachsener Mensch besteht aus 100 Billionen Zellen, von denen in jeder Sekunde 50 Millionen absterben und beinahe ebenso viele neue entstehen. – Kurzum: Zu leben, lebendig zu sein, ist nicht nur ein äußerst bemerkenswerter Zustand, sondern vor allem ein höchst komplexer Kreislauf verschiedenster Prozesse. Und jenes fragile Gleichgewicht, das ihm zugrunde liegt, fasziniert uns Menschen seit jeher.
Abderrahim Yamou (*1959 Casablanca), kurz Yamou, interessiert sich schon früh für biologische Phänomene. Doch nach einem anfänglichen Studium der Biologie an der Universität in Toulouse, das er nach mehreren Semestern abbricht, kehrt er erst über einige Umwege wieder zu seiner ursprünglichen Leidenschaft zurück. Ähnlich ergeht es ihm auch mit der Malerei. Während seiner Kindheit in Casablanca zeichnete der junge Yamou bereits auf alles, was sich finden ließ: auf Wände, in Schulbücher oder auf große Kraftpapiere, aber Künstler wollte er eigentlich nie werden. Also studiert er schließlich Soziologie, schließt mit einem Master ab und beginnt mit einer Doktorarbeit über die Entwicklung der marokkanischen Kunst im Zuge der Unabhängigkeit des Landes. 1986 dann, mit 27 Jahren, entscheidet sich Yamou letztendlich doch für eine künstlerische Laufbahn. Er zieht nach Montreuil, in einen quirligen Vorort von Paris, in dem seit Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Einwanderer aus dem Maghreb leben und in dem man heute unzählige Ateliers und Künstlerwerkstätten finden kann. Dort in einem Hinterhofgebäude, in einem großen und lichtdurchfluteten Studio beginnt Yamous künstlerische Selbstfindung. Zunächst arbeitet er an gänzlich abstrakten Gemälden aus Sand, Metall und Holz. Danach entstehen prähistorisch inspirierte Motive vor abstrakten Flächen und später wie im Nebel liegende Landschaften. Letztere reduziert der Künstler nach und nach auf ihre Bestandteile, ornamentale und pflanzliche Elemente gliedern nun die Leinwand. Die Pflanze in all ihren Details rückt so immer mehr in das Blickfeld des Künstlers. Anfang der 2000er Jahre findet Yamou schließlich zu seiner heutigen Bildsprache, die auf den ersten Blick vor allem von der Pflanzenwelt aus mikroskopischer Sicht inspiriert ist.
Betrachtet man das Gemälde La Visite (2015), scheint es als blicke man durch ein Mikroskop direkt in das Innere einer Pflanze: In einer gelblich-blauen Flüssigkeit schwimmen unterschiedliche kreisförmige, an pflanzliche Zellen erinnernde Strukturen neben weiß-grünblättrigen Pflanzenbällen und zarten rosa- und grün gefärbten Pflanzensamen. Aus einer vielschichtigen Epidermis im unteren Bereich des Bildes wachsen zugleich vereinzelte Äste und Zweige, an deren Enden zierliche Blüten sprießen. Die pastellige, fast sonnige Farbigkeit des Gemäldes steht allerdings im deutlichen Kontrast zum künstlichen Licht eines Mikroskops. Bereits hier wird deutlich, dass Yamous Bildsprache über die objektive Abbildqualität eines Mikroskops hinausgeht. Stattdessen befreit er sich von den Regeln einer rein wissenschaftlichen Darstellung und ergänzt, empfindet nach, überschreitet Dimensionen und vereint sie dann in erstaunlich ausbalancierten Kompositionen.
Eine intensive Bearbeitung von Farbflächen und -strukturen bestimmt einige Werke der frühen 2010er Jahre, wie Inside 5 (2012) und Nuit 2 (2013). Beide Arbeiten weisen eine düstere und geheimnisvolle Farbstimmung auf und – obwohl sie die bereits bekannten Pflanzenbälle und runden Zellformen, diesmal in Grau, Weiß und Violett, wieder aufgreifen – prägt doch die Farbe als Struktur auf der Leinwand die Gemälde maßgeblich. In Nuit 2 schiebt sich die graue Farbe als geriffelte, erhabene und zähe Masse vor den schwarzen Hintergrund, während in Inside 5 die schwarz-weißen Farbflächen wie Mondkrater vor dem monochromen Hintergrund hervorragen. Und mit einem Mal befinden wir uns nicht mehr im Innern einer Pflanze, sondern werden von Yamou unversehens ins Weltall katapultiert; in einen Kosmos, dessen Gesetze der Künstler ganz allein bestimmt; ein Kosmos, der aber dennoch die gleiche schwerelose Balance in sich trägt, die auch im Innern der Yamouschen Pflanzenwelten herrscht. Und manchmal weiß man als Betrachter gar nicht so genau, in welcher von beiden Welten man sich gerade befindet, wie sich an den eindrucksvollen, großformatigen Arbeiten Les amas bleus (2012) und Les amas jaunes (2012) veranschaulicht.
Ein weiteres wiederkehrendes kompositorisches Element ist die horizontale Teilung der Leinwand im unteren Drittel. In Inside 5 findet diese Abgrenzung beispielsweise mittels einer violetten Farbfläche statt, die jedoch von einigen Pflanzenbällen spielerisch „übersprungen“ und so als räumlich markiert wird. In dem neueren Werk Square 1 (2018) setzt Yamou, ähnlich wie Les amas jaunes und La visite, hingegen eine organische Struktur an den unteren Bildrand, die an Pilzsporen oder Korallen erinnern mag. Diese dichte Struktur greift einerseits die Stofflichkeit der hier in Schwarz und Grau kolorierten Pflanzenbälle wieder auf, andererseits bildet sie eine deutliche Barriere zum Betrachter, die allerdings auch hier übertreten wird. Um diesen Eindruck von Räumlichkeit noch zu verstärken, verwendet Yamou häufig Montierungen von sich wiederholenden Elementen. So legt er in der vorliegenden Arbeit zum Beispiel vier lange, schmalgliedrige Chromosomenstränge (oder sind es Baumstämme?) auf die Leinwand. Hinter diesen Strängen schweben Zellkerne, Pflanzenbälle sowie keimende Samen und Blüten, die wiederum von einem beinahe undurchdringlichen Wald umfangen werden, der nur mittig etwas Licht hindurch scheinen lässt. Dass es sich tatsächlich bei den gröberen vertikalen Strukturen um Baumstämme handeln könnte, deutet der Titel der ähnlich, aber deutlich offener angelegten Arbeit Three trunks (2018) an. Da „trunk“ jedoch auch „Nervenstamm“ oder „Gefäßstrang“ bedeuten kann, spielt der Titel vielmehr mit seiner sprachlichen und bildlichen Mehrdeutigkeit, als dass er sie auflöst.
In enger Verbindung zu Three trunks steht die Arbeit Molécules G2-18 (2018). Zudem zeigt sie im Vergleich zu früheren Werken ein ganz neues Bildelement, das der Künstler erst seit 2018 verwendet: Molekularstrukturen. In der Farbigkeit der Chromosomen-Stämme aus Square 1 driften die Moleküle hier durch jenen, uns bereits vertrauten, aber noch dunkleren Wald, umgeben von sprießenden Samen und kreisrunden Zellen. Und trotz der Schwerelosigkeit der kleineren Bildelemente tragen die blattlosen Baumstämme und die reduzierte, düstere Farbpalette des Werkes doch zu einem Gefühl von untergründiger Bedrohlichkeit oder auch Trauer bei, das die sonst in anderen Werken überwiegende positive Empfindung, dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen, überlagert. Weitere jüngere Werke mit Molekularstrukturen, wie die Serie Molécules P-18, tragen jedoch wieder eine ruhige und gelassene Energie in sich, verbleiben allerdings meist auch in einer eher gedämpften Farbsprache.
Dass Yamous Werke aber nicht ausschließlich als Ausdruck der eigenen Faszination am biologischen Leben und all den damit verbundenen Elementen und Prozessen zu verstehen sind, zeigt sich besonders an Gemälden wie Hésitations (2014), Les sensibles (2015) oder dem bereits beschriebenen La visite (2015). Die Titel laden gerade dazu ein, das Dargestellte auch auf einer metaphorischen Ebene zu betrachten: Das schüchterne Rosa der Empfindsamen, das anmutige Farb- und Formspiel des Besuchs oder das zögerliche Annähern der Formen, das sich in zartem Rosa-, Violett- und Grautönen in Hésitations zeigt – all dies legt nahe, dass in vielen von Yamous Werken nicht nur der Schritt von der Mikro- zur Makroebene, sondern auch der zur Metaebene impliziert ist. Der Künstler selbst sagt: „In meinen Arbeiten ist der offensichtliche formale Bezug zur Biologie oder zur Botanik der Ausdruck eines anhaltenden Bestrebens, das Leben zu erforschen und die Energie zu malen, die für die Schöpfung von Leben selbst notwendig ist. Die Welt der Pflanzen – eine unendliche Quelle für neue Formen – ist eine fruchtbare Metapher für unsere menschlichen Interaktionen und Sehnsüchte.“[1] Und so bündeln sich am Ende alle Facetten und Blickweisen von Yamou in seinen Arbeiten: die eines Biologen, die eines Soziologen und vor allem die eines Malers, für den die Faszination für das Leben, die Natur und die Kunst eins sind. Und so scheint es nur konsequent, dass der Künstler seit 2005 zeitweise auch in Tahannahout, in einem kleinen Ort unweit von Marrakesch, lebt und arbeitet: Sein Atelier dort grenzt direkt an einen großen, üppigen Garten, in dem der Künstler Inspiration findet und seine Werke in der Sonne trocknen lassen kann, während seine Hunde im Schatten dösen.
[1] Yamou, Working from Life. 2016
Text: Claudia Heidebluth, Fotos: Alexander Bondar
Interview mit Yamou
Video: Diana Vishnevskaya & Igor Zwetkow