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Maria Kassab & Semaan Khawam • Displaced Portraits

Wer bin ich? Bin ich ein Gesicht, bin ich ein Körper, bin ich ein Produkt meiner kulturellen und sozialen Herkunft? Wer bin ich? – Die Suche nach der eigenen Identität ist ein dynamischer Prozess, den jedes Individuum Zeit seines Lebens immer und immer wieder durchläuft. Mal ganz bewusst, mal unbewusst. Greifbar wird diese Selbstbefragung im künstlerischen Medium des Selbstporträts. Dort nimmt die Identitätssuche Gestalt an, erschafft einen Raum, eine Form, eine Farbe, die das Ich umreißt und ihm bleibenden Ausdruck verleiht.

Wer bin ich? Wer bin ich, wenn ich einer Stadt lebe, die vor dem libanesischen Bürgerkrieg als Hauptstadt des Landes ein Vorbild für die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Konfessionen war und nun – mehr als ein Vierteljahrhundert danach – in Ost und West, in Christen und Muslime geteilt ist und in der das Recht auf die eigene (vor allem politische) Meinung noch immer der Zensur oder militärischer Gewalt unterliegt? Die Künstler Maria Kassab und Semaan Khawam leben und arbeiten in Beirut – und jeden Tag in der chaotischen und lebendigen Hauptstadt mit ihren disproportionierten Gebäuden, den unzähligen in den Himmel ragenden Dachantennen und der Atemberaubenden Landschaft, in die sich die Metropole bettet, begeben sie sich auf die Suche nach sich und ihrer Beziehung zu der Stadt, in der sie leben. In der Galerie Kuchling lassen uns die beiden Künstler nun an dem komplexen und faszinierenden Prozess ihrer künstlerischen Selbstbefragung teilhaben. In den poetisch-surrealistischen Collagen und Fotomontagen von Maria Kassab scheint die dargestellte Bildwelt auf den ersten Blick (alb)traumhaft zersplittert, defragmentiert und von berührender Zeichenhaftigkeit. Immer wieder sind es die Versatzstücke eines weiblichen Körpers, der mal nackt und verletzlich über Kriegsschauplätzen schwebt, nachdenklich Haarzwirbelnd Hand und Nase eines bewaldeten Bergwipfels ist oder im siebten Stock eines Firmenhochhauses zum Bein- und Po-reduzierten Sexualobjekt wird. In Of rivers and lakes erscheint das Gesicht der Künstlerin geisterhaft über dem Gipfel eines Wasserfalls, dessen wild hinabströmendes Wasser wie ein tränender Schleier Mund und Körper verhüllt. Jene stille Traurigkeit spricht auch aus der weiblichen Gestalt, die kopflos ihre Beine eng umschlungen an die eigene Brust drückt. Teilweise bedeckt von arabischer Schrift und rot-schwarz gemustertem groben Leinen sucht sie an sich selbst Halt.

Während Kassab weniger das eigene Gesicht, sondern oft deutlich weiblich konnotierte Körperteile als Medium benutzt, um ihre Identität als Frau im natürlichen oder soziokulturellen Kontext zu hinterfragen, begibt sich Semaan Khawam in ganz klassischer Form auf die Suche nach sich selbst: in der Betrachtung des eigenen Antlitzes und dessen Bannung in einem Selbstporträt. Die Form des traditionellen Selbstporträts, das frontal das eigene Gesicht sowie den Ansatz von Brust und Schultern zeigt, unterläuft Khawam jedoch durch die besondere Zeichentechnik, die er verwendet. Mit feinlinigen, lasierenden Strichen aus Tinte, Tusche, Kaffee und Kohle tastet und sucht Khawam die eigenen Konturen auf dem Papier, findet schemenhaft Umrisse und Flächen, die aus der Ferne wie die Aufsicht auf unbekannte Landschaften wirken. Das eigene Gesicht wird in Felder aus Farbflächen geteilt, mit azurblauen Seen bewässert, mit umzäunten Farbfeldern und bunten Wiesen bebaut. Das eigene Gesicht, das jeden Tag anders und doch immer dasselbe ist, ist gleichsam Landschaft der eigenen Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Träume und bleibt doch immer die gleiche Grundfläche, der gleiche Ausgangspunkt, welcher dem prüfenden Blick des Betrachters und des Betrachtetem standhalten muss. Doch Khawam verbleibt während seiner Selbsterkundung nicht auf der Oberfläche seines Gesichtes, sondern verwendet kleine wiederkehrende ikonographische Elemente, wie Vogel und Schildkröte, die ebenso Ausdruck und zeichenhafte Erweiterung des eigenen Ich, der eigenen Gedanken und Gefühle sind. So findet sich in vielen Selbstporträts des Künstlers ein kleiner Vogel, der hinter der Stirn des Dargestellten sitzt und nur darauf wartet, von ihm frei gelassen zu werden. Und dies gelingt Khawam, wenn er schließlich in seinem großen Selbstporträt mit ausgestreckten Armen und zwei Strängen, die aus seinen Schläfen wachsen, einen Ring um sein Haupt formt, in dem mehrere jener kleinen Vögel in einem Blätterwirbel schweben. Mit poetischer Leichtigkeit veranschaulicht Khawam so eine aus Gedankenkraft erschaffene eigengesetzliche und lebensfrohe Welt.

Mögen die Arbeiten der beiden Beiruter Künstler auf den ersten Blick recht unterschiedlich scheinen, so sind sie doch auf ihre Art stets eine Reaktion auf die Stadt, in der sie entstehen: Maria Kassab wurde in Beirut geboren, ging jedoch aufgrund der lebensbedrohlichen Situation während des Libanesischen Bürgerkrieges nach Montreal und kehrte erst 1995 in ihre Heimatstadt zurück – auch um etwas zu ändern: „However, we try, we the little people to make big changes. Whether through infiltration ourselves into peaceful movements with messages … or through artistic mediums translating contents and substances about a scream wanting to be heard“1. Semaan Khawam, der auch als Graffitikünstler in den Straßen Beiruts mit seinen Werken Aufmerksamkeit fordert, drohte im Jahr 2012 eine dreimonatige Haft- bzw. hohe Geldstrafe, weil er ein Graffiti im Form eines bewaffneten Soldaten an eine Hauswand sprühte. Dieser Soldat sollte an den Libanesischen Bürgerkrieg erinnern, der von vielen so oft und leicht als Vergangenheit abgetan wird und doch noch überall in der Stadt präsent ist. Noch immer ist Beirut eine Stadt der Kontraste und Widersprüche. Kontraste, die aber vielleicht auch als Katalysatoren für künstlerische Kreativität dienen können. Denn so unterschiedlich die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ der beiden Beiruter Künstler auch ausfallen mag, so ist doch sowohl in Khawams als auch in Kassabs Arbeiten eine Antwort stets impliziert: Ich bin jemand mit einer Stimme. Mit einer künstlerischen Stimme, die auf Widersprüche aufmerksam machen kann; einer Stimme, die die Vergangenheit nicht einfach vergessen lässt. Und mit dieser Stimme und meinem künstlerischen Talent habe ich eine Gabe: eine Gabe, mit der ich mich selbst so sehen und so gestalten kann, dass ich frei bin.

1Interview in: Libalel, 18. März 2011

Text: Claudia Heidebluth

  • 21. Dezember 2024