Das Unbekannte, das Fremde, das Andere ist ein Abstraktum voller verführerischer Untiefen. Allzu leicht wird es zur Projektionsfläche eigener Sehnsüchte und Ängste und legt dabei in spekulativen Kausalreihen Zeugnis über die Grenzen unseres Wissens ab. Aktuelle Beispiele für dieses Phänomen lassen sich schnell finden, aber auch die europäische Kunstgeschichte bietet hier einen umfangreichen Fundus an Motiven. Einer der vielleicht eindrücklichsten Bildgegenstände, der sich mit dem Fremden und Exotischen befasst, ist der Harem des Osmanischen Reiches. Seit dem 16. Jahrhundert vermitteln westliche Haremsdarstellungen Europäern ihr Wissen über den Orient, stets mit dem hohen „Anspruch, das Unzugänglichste der islamischen Kultur sichtbar zu machen.“[1] Im Laufe der Zeit wurde das Haremsmotiv dabei Plattform verschiedenster Diskurse. Während französische Kostümdarstellungen im 16. Jh. anhand von Kleidung, Hautfarbe und Geschlecht soziale Funktionen und die kulturelle Zugehörigkeit der Haremsangehörigen dokumentieren, konzentrieren sich die Odalisken-Motive von Ingres rund drei Jahrhunderte später überwiegend auf die Darstellung eines klassischen Schönheitsideals im orientalischen Kontext. Mitte des 19. Jhs. zeigt sich dann in der europäischen Malerei eine deutliche „Zuspitzung und damit Reduzierung der Haremsikonografie auf Stereotype, wie beispielsweise in den Gemälden von (Jean-Léon) Gérôme. Nun werden die Figuren im Orient auf Erotik, Müßiggang und Gewalt reduziert.“[2] Matisse schließlich unterwirft seine orientalisch-erotischen Fantasien vor allem einem übergeordneten ornamentalen Gestaltungsprinzip.
Die ausgewählten Beispiele veranschaulichen exemplarisch, wie der oftmals halb- oder unwissende Blick der europäischen Künstler das Bild des Harems vor allem während der Hochphase des europäischen Kolonialismus prägt.[3] Der Harem als Inbegriff sexueller Ausschweife und männlicher Gewalt im Orientalismus steht einer in der Realität lediglich der Oberschicht zugehörigen, streng hierarchisch gegliederten Struktur gegenüber, in der neben den Ehefrauen des Sultans auch deren Kinder, weibliche Familienangehörige, Diener und Eunuchen lebten und der zumindest für die Ehefrauen und die Sultans-Mutter ein zu der Zeit verhältnismäßig großes Macht- und Bildungspotenzial barg.
Wie man jenen kunsthistorisch verankerten eurozentrischen Blick auf das Haremsmotiv und den Orient umkehren und durch ironische Brechungen weiten und zugleich schärfen kann, zeigt der türkische Künstler Bedri Baykam (*1957) in seiner aktuellen Ausstellung I wish I had a harem. In seiner sogenannten 4D-Arbeit, einem komplexen Lentikulardruck, Harem d’Avignon is 100 years old (2007) platziert Baykam selbstbewusst die Fotografie seines jüngeren Ichs zwischen zwei Porträts von Pablo Picasso. Am oberen, rechten Rand schwebt zudem ein spiegelverkehrter Ausschnitt aus dessen Les Demoiselles d’Avignon, der sich je nach Standpunkt des Betrachters verändern und zu bewegen scheint. In der unteren linken Bildhälfte sowie über die Bildfläche verteilt sind weibliche, zugeschnittene Fotoporträts angeordnet, die teils handschriftliche Namen tragen. Unterschrieben ist das Werk mit der Sentenz: „Bir Haremim olsun isterdim (I wish I had a Harem).“ Baykam zitiert in dieser bemerkenswerten Arbeit nicht nur Picassos kubistisches Meisterwerk, sondern auch sich selbst. Denn das Selbstporträt und die Frauenfotografien stammen aus der bereits 1987 gefertigten Fotocollage, für die Baykams damals schon ironisch formulierter Wunschtraum titelgebend war und die sich heute in der Sammlung des Istanbul Modern befindet. Im vorliegenden Werk stellt Baykam folglich sich und sein künstlerisches Schaffen mit der Person Picassos und dessen Werk in einer Analogie gegenüber. Geschickt verbindet er dabei beide Bildwelten motivisch und sprachlich durch den Kontext des Harems. Picassos Bordellszene wird so zur Darstellung eines Harems. Und plötzlich stehen da Fragen im Raum: Wer spricht hier? Wer der beiden Männer wünscht sich einen Harem? Und wie prägt der Kontext die Bildaussage des bekannten Picasso-Motivs? Baykam beantwortet letzteres für sich selbst: „Also, wenn ich an die Demoiselles d’Avignon von Picasso denke, dann sieht dieses Gemälde auch wie eine Szene aus dem Harem aus, aber von einer ganz anderen Welt, die Afrika mit einschließt. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Picasso sich eingehend mit den französischen Malern des Orientalismus auseinandergesetzt hat sowie auch mit dem Motiv des Harems“.
Für Bedri Baykam, einstiges Wunderkind und vehementer Kämpfer für die Demokratie seiner Heimat, hat das Œuvre von Picasso maßgeblichen Einfluss auf sein künstlerisches Schaffen. Darin fasziniert ihn am meisten das Motiv der Demoiselles, das er immer wieder in seinen Arbeiten aufgreift. In Demoiselles (2009), einer 4D-Arbeit in eher dunklen Tönen, bringt der Künstler die signifikanten Armhaltungen der Damen in neoexpressionistischer Manier auf die Bildoberfläche und setzt diese in Bezug zu einem Porträt des jungen Picasso, einem mit „Toni“ betitelten Selbstporträt, zwei erotischen Frauenfotografien und einigen Versatzstücken aus Cézannes Die großen Badenden, die am unteren Bildrand je nach Perspektive hervorschimmern. In dem großen, farbkräftigen und ausdrucksstark gepinselten Gemälde Demoiselles and the Sailors (2014) interpretiert Baykam dann eine Vorstudie des Werkes malerisch neu. Besonders interessant sind hier die ins ursprüngliche Motiv eingefügten Elemente: So trägt die dunkle Männerfigur am linken Bildrand eine Art Cowboyhut, zudem hat Baykam am oberen Rand drei unterschiedliche Textile ins Werk eingefügt. Gelungen webt der Künstler so einerseits in das bekannte Werk unterschiedliche kulturelle Elemente ein, andererseits spielt er auch hier mit der optischen, aber auch haptischen Beschaffenheit der Oberfläche und schafft so eine zusätzliche räumliche Dimension.
In dem großformatigen Lentikulardruck Harem Now and Then (2008) widmet sich Baykam dann einem anderen Künstler der anbrechenden Moderne: Hier fügt er Fotos von Skulpturen Rodins mit unterschiedlichen Motiven von Badenden und Akten vor einer historischen Ansicht Istanbuls zu einem provokanten erotisch-historischem Konglomerat aus Ost und West, Kunst- und Kulturgeschichte und Gegenwart zusammen. Klar ist: Die Werke Baykams lassen sich oft nur mit einem entsprechenden kunsthistorischen Wissen entschlüsseln, das vor allem, wie die künstlerischen Wurzeln Baykams selbst, in der europäischen Moderne fußt. „Der größte Einfluss ist mit Sicherheit Picasso, natürlich …“, so Baykam. „Was für mich wichtig ist, dass er auch viele verschiedene Perioden und Stile hatte ohne in einem davon gefangen zu sein … Diese Fähigkeit zur Veränderung oder zum Sich-Verbergen besitzt auch Picabia. Ich mochte auch sehr Van Gogh’s Pinselstrich oder die Spontaneität von Tapies genauso wie die Reise von Jackson Pollock, der mit dem Kubismus und Surrealismus begann und dann seinen Weg bis hin zu seinen Drip Paintings erarbeitete“. Wie bereits gesehen, scheut sich Baykam dabei nicht – ja, er liebt es geradezu! – diese vielfältigen Einflüsse auch motivisch in seinen Werken zu verarbeiten und mit unterschiedlichen kunsthistorischen und zeitgenössischen Bildelementen zu einer einzigartigen Bildsprache zwischen Collage, Malerei und Räumlichkeit zu finden. Das komplexe Netz, das er dabei beherzt zwischen Orient und Okzident knüpft, ist mehr als überfällig – wie sich für Baykam vor allem am Motiv des Harems veranschaulicht: „Die französischen Orientalisten, vor allem Ingres und Gérôme schilderten einige wunderschöne Szenen im Harem und auch im Türkischen Hamam … Mein erstes Gemälde, das sich mit diesem Thema beschäftigte hieß ‚Ingres- Gérôme this is my bath‘ und wurde auf der Istanbul Biennale (1987) gezeigt. Es war eine Reaktion an den Westen, es ging um all meine Theorien in Bezug auf östliche und westliche Kunst … Zusammengefasst habe ich gesagt: ‚Hört auf all unsere Ikonografien zu verwenden und zu glauben, dass ihr nach deren Übernahme auch das ‚Copyrights‘ daran besitzt. Hört auf damit, uns zu Fremden in unserem eigenen Hinterhof zu machen, wie ihr es seit Beginn der Moderne schon immer gemacht habt.“
Baykam, der in Ankara geboren ist und heute in Istanbul lebt, möchte sich künstlerisch nicht von seiner Herkunft begrenzen lassen, stattdessen hinterfragt er kunsthistorische Sehgewohnheiten und deren Kontexte, wählt frei seine künstlerischen Inspirationsquellen und formuliert vehement seinen individuellen Platz am augenscheinlich nicht linearen Zeitstrahl der Kunstgeschichte. Und das auch mal mit dem Readymade eines leeren Rahmens, der frei im Ausstellungsraum hängend, einmal mehr zu fragend scheint: Was sehen wir, wenn wir Kunst sehen? Vielleicht: Uns selbst. Uns selbst im Rahmen einer künstlerischen Idee, uns und unsere Veränderlichkeit in Raum, Zeit und Kontext. Wir sehen das Vertraute und das Fremde in einer Begegnung.
[1] Silke Förschler: Bilder des Harem. Medienwandel und kultureller Austausch. Köln 2010, S. 296
[2] Silke Förschler 2010, S. 298
[3] Grundlegendes, aber auch umstrittenes Werk auf dem Gebiet des Orientalismus ist die Untersuchung „Orientalism“ (1978) von Edward Said.
Text: Claudia Heidebluth